Bericht von Dr. med. Hans Kiessling über seine Visite im Lager Ohmstede (1958)

Dr. med. Hans Kiessling

Oberarzt an den v. Bodelschwingschen Anstalten

Bethel / Bielefeld, den 20.3.1958

In Einverständnis mit Herrn von Scheliha, demzuständigen Referenten beim Herrn Regierungspräsidenten Oldenburg, demSachbearbeiter beimBeauftragten der UNO, sowie demHauptbüro des Evangelischen Hilfswerks in Oldenburg berichte ich über meine Eindrücke, die ich beimBesuch des Lagers für heimatlose Ausländer in Ohmstede/Oldenburg in der Zeit vom 17.bis 19.3.1958 gewonnen habe. Der Bericht fusst auf demunmittelbaren Eindruck und einer Reihe persönlicher Gespräche mit den Lagerinsassen sowie der Durchsicht der Lagerkartei. Wichtige Ergänzungen und Hinweise‚ die für eine gezielte Orientierung über die bestehenden Verhältnisse unentbehrlich waren, verdanke ich in besonderemMaße demSeelsorger der Letten in Raume Niedersachsen, Herrn Pastor Urdze, und den beiden Mitarbeiterinnen der Inneren Mission,d er Lagerfürsorgerin Frau Burchard und der Eingliederungsberaterin Frau Hilbers.

Eigener Arbeitsverdienst, Renten, Fürsorgeunterstützung und preisgünstige Einkaufsmöglichkeiten einerseits,billiger Wohnraum in den Baracken (ein Zimmer kostet etwa 4 DM) schließen Hunger und Gesundheitsschäden durch Kälteeinwirkung als unmittelbare Folge des Verlustes der Heimat auch ohne Kleider- und Lebensmittelspenden aus. Im Ganzen sind die Baracken eben noch fest genug, umvor Witterungsunbilden zu schützen. Manche Mängel und Schäden, sowie der Nachteil ungewöhnlicher Schalldurchlässigkeit‚ werden allerdings bald die Unterbringung in stabilen Wohnhäusern als Dauerlösung erfordern.

Was aber die seelische Verfassung der Lagerinsassen, ihre sozialen Verhältnisse, ihre Lebensgestaltung betrifft, so bietet sich insgesamt ein erschütterndes‚ um nicht zu sagen ein an der Katastrophe stehendes Bild.

Es ist bekannt, wie die vertriebenen Ausländer in den Jahren nach Kriegsende in Erwartung und “aus Hoffnung” lebten, wie oft sie zurückgestoßen und enttäuscht wurden, wie sich ihre Pläne und Hoffnungen zerschlugen, als sie infolge ihres Alters oder einer Erkrankung oder sonstiger widriger Umstände nicht zum Auswandern kamen. Manche Familien wurden zerrissen. Diese Lebenshaltung auf Hoffnung und Vorläufigkeit ist nicht überwunden. Man ist sich zwar in Ganzen darüber klar, daß man mit größter Wahrscheinlichkeit in Deutschland bleiben wird, aber von den seit langen Jahren in Lager befindlichen Menschen lösen sich nur einzelne besonders energische Persönlichkeiten vompsychischen Milieu des Lagerlebens, des Renten-und Fürsorgeempfängers. Man ist mutlos geworden, hat Angst vor dem Leben und hat die Initiative verloren. Ungewöhnlich viele sind krank, alle sind sie aus demgewohnten Lebens- und besonders Berufskreis geworfen. Lettische und deutsche Verwaltung‚ Schulsystem, Einrichtungen des öffentlichen Lebens usw. unterscheiden sich in ihren jeweils gewachsenen Aufbau so gründlich voneinander, daß ein lettischer Beamter, Lehrer oder sonstiger Intellektueller sich mit den entsprechenden deutschen Berufskreisen nicht vertraut machen kann. Demlettischen Bauern fehlt das Land zum Siedeln, und daß man nicht bei einem deutschen Bauen arbeitet, dazwischen steht verkehrt verstandenes Nationalitätsbewußtsein und Nachkriegspropaganda.

Diese berufliche Entwurzelung wird erschreckend klar und schlagartig beleuchtet, wenn man sich vergegenwärtigt, daß von den etwas über 100 berufstätigen Menschen des Lagers sich der größte Teil im Dienste der englischen und amerikanischen Armee in den sogen.  Wach-und Transporteinheiten (MSO) befindet. Es wurde mir berichtet, daß diese Arbeit die meisten nicht befriedigt. Man ist nicht ausgelastet und lebt ein ungekanntes sinnloses Leben. Viele der Betroffenen würden ihren Lohn in den Kantinen mit Essen und Trinken verbrauchen und erübrigten kein Geld, um ihre im Lager befindlichen Familien zu ernähren. Die große Entfernungzwischen dem berufstätigen Ernährer, der bei der Truppe wohnt, und den im Lager befindlichen Familienangehörigen schafft eine empfindliche Trennung. Man kommt nur in Abständen von mehreren Wochen oder noch seltener zusammen. Diese Arbeit führt bei nicht wenigen auf die Dauer zumRuin der Familien und Ehen. Man gefährdet also mit dieser Arbeit auch noch die letzten Arbeitsfähigen und-willigen und deren Familienleben. Wie weit man bei der Truppe diese Menschen besonders betreut, für preiswerte Verpflegung, für seelische Führung, Freizeitgestaltung usw. sowie für Abführung des Lohnes an die Familie im Lager sorgt, konnte ich nicht näher erfahren.

Bedenkt man die aufgezeigten Schwierigkeiten, macht man sich klar, welche Belastung es bedeutet, lange Jahre im Lager und in Baracken zu leben, die so hellhörig sind, daß man jedes Wort des Nachbar mithört, daß man flüstern muß, wenn man sich Vertrauliches sagen will, daß man viel zu eng aufeinander sitzt, daß nichts dem Nachbarn verborgen bleibt, daß man also ständig in innerer Spannung, in Abwehrhaltung und Mißtrauen lebt, dann ist es für den Besucher ein um so erstaunlicheres Phänomen, daß man nach all diesen jahrelangen Belastungen noch eine freundliche Gastlichkeit und die unmittelbare Menschlichkeit antrifft, die den Mitteleuropäern beim Besuch in den osteuropäischen Ländern als etwas besonders Wertvolles  und Spezifisches umfängt und jene Menschen auszeichnet. Viele Haushalte sind sauber und ordentlich, oft stehen Blumen amFenster. Zwischen den Baracken sind saubere Beete angelegt, Blumen und Gemüse werden gepflegt. Man hält sich auch ohne Zäune und Grenzpfähle an die schmalen Wege und zertritt nicht bebautes Land. Viele Letten verrichten Gelegenheits-, wohl sehr oft Schwarzarbeit ohne Versicherungsschutz. Es gibt eine ganze Anzahl kinderreicher Familien; die Untersuchungen von Prof. Harmsen ( Institut für Staatsmedizin, Kiel ) bestätigt die überdurchschnittliche Bevölkerungsdynamik in den Lägern für heimatlose Ausländer imVergleich zur deutschen Bevölkerung. Die Gebundenheit an Sprache und Brauchtum ist noch lebendig. Der Gottesdienstbesuch der meist evangelischen Letten ist mit mehr als 20% höher als der der deutschen Bevölkerung. Tradiertes geistiges Gut ist noch immer gestaltend und wirksam, das Besondere der lettischen Psyche dürfte sich hier erhaltend bewähren.

Aber täglich nagen die Verhältnisse am Kulturgut und geistigen Bestand. Die Ehen sind gefährdet. Es gibt eine nicht geringe Zahl un- und außerehelicher Kinder. Aus rein materiellen Gesichtspunkten heraus unterbleibt auch bei Leuten, die ordentlich sind und sonst guten Ruf genießen, die Eheschließung, man lebt in wilder Ehe, nur um als formell Einzelstehende mehr Fürsorgeunterstützung zu beziehen. Sprachschwierigkeiten und Entwurzelung aus Beruf und Sippe, schließlich mangelhafte Kenntnisse der deutschen Verhältnisse haben zu Eheschließungen zwischen oft wertvollen Letten und unzulänglichen deutschen Frauen geführt. Diese Ehen sind entsprechend.

Verheerend wirkt sich das Lager- und Rentendasein sowie die jahrelangen ziellosen nicht gesteuerten Spenden aus, besonders für jüngere Leute! Wenigstens 30 Trinker bezw. trunkgefährdete Leute wurden mit genannt. Wie viele Trinker sich in den MS0-Einheiten befinden, die ihren Lohn vergeuden und ihre Familien nicht unterstützen‚ war in der Kürze der Zeit nicht zu ermitteln.

Ich habe selbst einen Oberschenkelamputierten gesprochen, der monatlich eine Kriegsrente von etwa 400 DM bezieht. 35 Jahre alt, früher Schriftsetzer, verbringt er sinnlos seine Tage. “Früher konnte ich Monate nichts trinken,

dann waren es Wochen. Jetzt komme ich keine zwei Tage ohne Alkohol aus. Früher langten mir 120 DM Rente gut, heute habe ich bei 400 DM Schulden. Ich esse mal, und mal ess ich nicht. Mal habe ich Erbrechen und mal Durchfall.

Es ist nichts mehr los mit mir.” Ich erzählte ihm, ich wolle noch mehr seiner Kameraden sprechen. Er grinste vielsagend:”Die schlafen noch, haben ihren Rausch noch nicht ausgeschlafen.” Das war amVormittag, – Am Nachmittag traf ich ihn schwer betrunken an.

Später saß ich mit 5 anderen Rentnern, alle zwischen 30 und 35 Jahren, zusammen. Einer davon Holzschnitzer, nicht unbegabt, er trank aber nur. Der Zweite ging kaumaus sich heraus, schüttelte mir beifällig den Kopf, als man sagte,

es müsse etwas getan werden‚ Essen und Trinken lange nicht für das Tier, nicht für den Menschen. Außer der Rente brauche man eine Aufgabe. Der Dritte war angeheitert, dabei ganz offen. Abwechselndtrank er billigen Branntwein aus einem Konservenglas und Milch aus einer Flasche. Alter geräucherter Fisch stand unappetitlich auf demdreckigen Tisch. Abgestandener Rauch roch unangenehm im ungeheiztenRaum. “Mal ess ich, mal sauf ich,  Kochen – nee, tu ich nicht. Ist alles egal. Wir saufen, bis wir tot sind.” Das war der Dritte, tbc.–krank. Er hat seine Einberufung in die Heilstätte – wieder einmal – bereits in der Tasche.

Einen 86-jährigen Lehrer und seinen 53-jährigen Sohn, der früher Chemie studiert hatte, traf ich morgens um 9 Uhr 30 in den Betten an.  Das Zimmer war in schwerst verwahrlosten Zustand, dreckstarrend, ungeheizt. Vier Katzen sprangen herum. Selbst Lebensmittelspenden hatte der Sohn trotz Aufforderung gelegentlich nicht abholt. Seine Apathie ist sicher krankhaft, trotzdem hatte man ihn zeitweilig die Fürsorgeunterstützung entzogen, als er nicht zur zugewiesenen Arbeit erschien. Schon mehrmals hat man ihm angeboten, er solle sich in einer Klinik behandeln lassen. Er hat es nie getan trotz seiner Versprechen. Die Beschwerden, die er mir beschrieb, lassen an eine degenerative Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems infolge jahrelanger Fehlernährung denken. Auch bei vielen Trinken, die sich oft kein Essen bereiten oder infolge des Alkoholmißbrauchs keine festen Speisen vertragen, dürften bei vielen Beschwerden Mangelerscheinungen eine Rolle spielen. Sicher sind manche Tuberkulosekranke durch Trunksucht in ihren Abwehrkräften entscheidend geschwächt und deshalb leicht tbc.-rückfällig. Die Zusammenhänge zwischen Fehlhaltung und ungenügender Lebensgestaltung sowie der Krankheit sind hier evident, daß es keiner ärztlichen Schulung bedarf, umdas zu erkennen. Daß darüber hinaus auch jede aber auch jede seelische Fehlhaltung ‚wie sie imLager und Rentnerdasein anzutreffen ist, den Boden für viele verschiedene Krankheiten bereitet, das lehren uns die Erkenntnisse einer vertieften psychosomatischen Medizin.

Die hohe Anzahl von Trinkern 1äßt sich m.E. nicht allein mit einer negativen Auslese erklären. Vielmehr ist es das Flüchtlingsschicksal , das Rentnerdasein und das Lagerleben, des den Menschen  die Lebensaufgabe vorenthält, sie ohne Anforderung 1äßt. Man hat den vertriebenen Ausländern nach Ende des Krieges eingehämmert, sie müßten nicht arbeiten, sie hätten das Recht auf Versorgung. Man hat sie mit Essen und Kleidung und Geld versorgt. Aber man hat sie mit solchen Versprechungen und Zusagen und Gaben innerlich gespalten, hat die Einheit von Person und Schicksal zerstört, den Personenkern zerbrochen. Man hat ihnen die Lebensaufgabe und den Sinn ihres Daseins genommen. ImGrunde nur ein besonders tragischer und verbreiteter Fall einer Rentenneurose, die wir alle gut genug imeigenen Lande kennen.

Manche von den Trinkern waren in einer Trinkerheilstätte 6 Monate zur Entziehungskur. Man muß aber in der Behandlung von Trinken schon völlig unerfahren sein, wenn man glaubt, hier allein mit einer Entziehungskur ohne intensive nachgehende Fürsorge helfen zu können. Ich glaube überhaupt, man unterliegt in seinen Hilfsmaßnahmen den Irrtum, es ginge mit Verordnungen und Spenden alleine ohne persönlichen Einsatz. Bei den Trinkern gibt es nur eine einzige Maßnahme, die wenigstens bei manchen Aussicht auf Erfolg hat, nämlich die Entmündigung. Die menschliche Gemeinschaft ist diese Maßnahme den so gefährdeten Menschen einfach schuldig. Man muß sich fragen, ob man unter der Demokratie eine Staatsreform versteht, die sich verpflichtet fühlt, Zustände zu dulden oder zu schützen, die auf die Zerstörung der menschlichen Gemeinschaft‚der bürgerlichen Ordnung und der Gefährdung des Staates hinauslaufen, wenn man hört, daß die Fürsorger größte Schwierigkeiten hätten, eine Entmündigung durchzubringen. Das sei bisher nicht gelungen. Wenn nicht der Antrag von Angehörigen vorläge , ließe sich eine Entmündigung nicht durchführen. Weil aber oft keine Angehörigen da seien oder die Angehörigen Angst vor einer eingreifenden Maßnahme hätten, darum müssen die Trinker eben zugrunde gehen.

Dabei liegen die gesetzliche Voraussetzung und der vorgeschriebene Weg ganz klar: Nach $ 6 BGB kann die Entmündigungwegen Verschwendung (Ziffer 2 ) und Trunksucht (Ziffer 3) ausgesprochen werden. Neben den Angehörigen ist die Staatsanwaltschaft beim vorgesetzten Landgericht zur Stellung des Antrages auf Entmündigung berechtigt, wenn es das öffentliche Interesse erfordert ($ 646 ZPO). Ordnungsamt, Gesundheitsamt und Staatsanwaltschaft müssen hier klar und entschlossen zusammenarbeiten. Sorgfältige, diskrete Zeugenvernehmungen zur Sicherung des Tatbestandes des chron. Alkoholismus, dann schnell durchgeführte Entmündigung, eine ganzjährige Entziehungskur. Danach weitere Vormundschaft, Rentenverwaltung, Essen in Form eines festgesetzten Mittagtisches, Beschaffung der Bekleidung durch den Vormund, Taschengeldgewährung nur nach regelmäßiger Teilnahme an einer Arbeit sind die Stufen zu sozialer Rehabilitierung. Auch hier bedarf es des persönlichen Einsatzes an erster Stelle, bei einen kleinen Anzahl von Trinkern die genannten Maßnahmen durchgeführt, wird andere abschrecken und zur Besinnung bringen. Jedenfalls muß die moralische Gefährdung anderer Lagerinsassen und besonders der Jugend (von 549 Lagerinsassen sind 145 Jugendliche bis zu 18 Jahren) verhindert werden.

Bezüglich der Auflösung des Lagers, der weiteren Eingliederung der Lagerinsassen erscheinen folgende Punkte, die sich bei allen Leuten immer wieder fanden, der Erwähnung und Berücksichtigung wert. Man sieht allgemein ein, daß des Lagerleben ein Ende finden muß. Der Zaun, der das Lager von der deutschen Umgebung abschließt, ein Symbol unnatürlicher Isolierung, muß in Wirklichkeit und imübertragenen Sinne fallen, die Wege des Lagers müssen sich mitden Straßen ohne merklichen Übergang verbinden. Die zukünftige lettische Siedlung kann dagegen ihr von lebendigen kulturellen Eigenleben geprägtes Gesicht haben.

Eine völlige Uniformierung und Gleichförmigkeit z.B. der Wohnhäuser erscheint nicht erwünscht, noch begründet. In Zukunftsollten die Zäune umdas einfache, aber solid gebaute und für den weiteren mit persönlicher Initiative betriebenen Ausbau (Bad usw.) geeignete Haus mit nicht zu kleinen Garten gehn. Der deutsche Städtegestalter wird allerdings von vornherein klare Grenzen bezüglich der noch erlaubten Anbauten (Schuppen usw.) festlegen müssen, um eine Entstellung der Siedlung durch manche uneinsichtige Siedler zu vermeiden. Alle Letten lieben das Land, die Blumen, die Selbstversorgung mit etwas Gemüse und die Haltung von Kleinvieh. Für ordentliche kinderreiche Familien sollte eine wohnraummäßig gute Lösung menschliche Pflicht und politischer Weitblick finden. Man ist von Lettland her einfache Häuser gewöhnt, das wurde überallbetont.

Fast gleichlautend hört man die Angst vor der hohen Miete.  Aus dieser Angst heraus fürchten nicht wenige die Auflösung des Lagers. Ein qm-Preis von 70 – 80 Pfennigen erscheint schon das Höchste, was man aufbringen zu können glaubt. Es wäre eine große entscheidende Tat, wenn man an Stelle verzettelter Spenden und laufender Mietunterstützung aus Fürsorgemitteln die zinshohe 1. Hypothek der zukünftigen Neubauten durch billige  Darlehen aus Mitteln des Bundes , der UNO und anderer Hilfsorganisationen aufbringen würde. Die Möglichkeit der Eigentumsbildung durch Erwerb der neu zu errichtenden Häuser wäre ein unvergleichlicher Anreiz zur Eingliederung in das Gastland, zur Aktievierung der eigenen Kräfte, zur rechten Anwendung der Geschenke und Spenden aus den Reihen der ausgewanderten Angehörigen. Die heimatlosen Ausländer werden noch lange in Sozialgefüge und im Existenzkampf im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung erheblich mehr gefährdet sein. Eine billige Wohnung würde eine nicht zu unterschätzende Sicherung auch der deutschen Fürsorgebehördenvor mancher Ausgabe und

manchem Kummer  – darstellen. Der psychologische Wert des Eigentums, des eigenen Gartens ist gerade bei den Letten garnicht zu überschätzen.

Alle Hilfsmaßnahmen sollten sich vornehmlich auf die Herstellung möglichst vieler selbstständiger oder teil selbstständiger Existenzen innerhalb des Lagers oder der zukünftigen Siedlung konzentrieren. Es gilt Keimzellen normaler Lebensbedingungen zu schaffen.

Anfänge sind gemacht mit der Gründung von Werkstätten, der Schneiderei, Strickerei, Schuhmacherei und der Tischlerei. Eine Wäscherei und eine Küche für die Alleinstehenden dürfte sich sicher behaupten. Diese Werkstätten

sollten in der Zukunft Arbeitsplätze für solche Lagerinsassen haben, die nicht mehr auf den normalen Arbeitsmarkt vermittlungsfählg sind. Auch wenn die neu gegründeten Werkstätten anfänglich noch Zuschußbetriebe sein sollten oder nur schwer den Anschluß an den Markt finden, sollte man sie unter allen Umständen erhalten. Sie leisten das, was man in der Behandlung seelisch Kranker die ” Arbeitstherapie ” bezeichnet. Auch das Lager bedarf der Arbeitstherapie. Wie ich oben anzeigte, ist der Müssiggang, die Sinnlosigkeit der Tage und die Sinnentleerung des Rentnerdaseins die Ursache des Niedergangs vieler Menschen.  Man muß versuchen, die  Menschen wieder an eine Aufgabe heranzuführen, ihnen wieder Vertrauen in ihren Fähigkeiten vermitteln. Das kann man nicht mit Almosen und Spenden ohne Zielrichtung. Diese Arbeit ammoralischen Wiederaufbaubedarf eines ständigen persönlichen und individuellen Einsatzes, der Aufrichtung durch eine erfahrene Persönlichkeit und der Beratung durch einen kaufmännisch und industriell Erfahrenen. Fürden Absatz der Erzeugnisse dürften manche deutschen und ausländischen Gemeinden Wertvolles leisten könne., Hinweise der Marktforschung auf Arbeiten, die viel Handarbeit

erfordern, wären erwünscht.

Erfreulich ist der gut eingerichtete Kindergarten sowie der Tageshort, wo die Schulpflichtigen beaufsichtigt werden und werken können. Bei den Lettenwäre der Kindergarten sicher noch wesentlich beliebter, wenn man lettische Kindergärtnerinnen hätte und die Kinder deutsche und lettische Lieder sängen. Bei der Neubauplanung wird man Kindergarten und Schule besonders zu berücksichtigen haben.  Die zweisprachige Erziehung, das bewußte Verarbeiten und Erarbeiten der besonderen Lebenssituation, Träger lettischer Kultur auf deutschen Boden zu sein, sollte herausgestellt und nicht verdrängt werden. Wir sehen es handgreiflich‚wohin das Leben ohne geistiges Zentrum und ohne Aufgabe führt, an den bereits gescheiterten und zerbrochenen Menschen des Lagers. Deshalb sollten alle verfügbaren Mittel zur Pflege völkischen Brauchtums eingesetzt werden. Lassen wir uns von den führenden amerikanischen Architekten Gropins leiten, so wird man in der zukünftigen Siedlung ein Kultur- und Gemeinschaftszentrum mit lettischer Bücherei, Gemeinschaftssälen, Sporthallen und einer bei den Letten so sehr beliebten, bisher vermißten Sauna errichten.

Bei aller großzügigen Planung dürfenwir nicht vergessen, wie wichtig die Führung der heimatlosen Ausländer, die imfremden Gastland‚ seelisch verbogen durch das lange Lager- und Rentnerdasein, lebensunkundig imdoppelten Sinne, ist. Es bedarf Individueller Lösungen und der Gelegenheit, zur Eigentumsbildung, wenn man wirklich “Siedlungen”‚ die leben, schaffen will. Wir Deutschen brauchen nicht scheu auf die Ausländerlager  sehen, als ob dort nur noch eine Sammlung Asozialer herauskommen könnte. Wir müssen aber alle gesetzlichen Möglichkeiten einsetzen, umdie Ordnung in den Lagern und zukünftigen Siedlungen aufrechtzuerhalten.

Man gewinnt den Eindruck, die Letten imLager fänden bei sich nicht Mut und Initiative, umsozial Gestrauchelte energisch auf den rechten Weg zu bringen. Von deutscher Seite sind noch nicht alle bestehenden Fürsorgesetze in vollen Umfang ausgewertet worden, umdiese schweren Notstände energische zu bekämpfen.

Freilich, man sollte großzügig und elastisch bleiben. Man muß sich ganz klar entscheiden, ob man beim In-Gang-setzen der neu gegründeten Werkstätten sofort mit der Verordnung kommen will, und jede nun mit der eigenen

Hände Arbeit verdiente Mark des Ausländers sogleich von der Rente oder der Fürsorgeunterstützung abziehen will und damit die mühsam entfalteten Keime eines neu sich wieder regenden Arbeits- und Lebenswillens ersticken,  ob man also die sozialen Mißstände weiter unterhalten und weiter Menschen an der Sinnentleerung ihres Daseins zerbrechen will – oder ob man eine Sonderregelung trifft und die Grenze des selbst verdienten Freibetrages ziemlich hoch ansetzen und damit zur sozialen Dauergesundung beitragen will. Jedenfalls eines ist sicher: Eine starre strenge Verordnung wird den deutschen Staat keine Mark einbringen, aber viel zerstören und das, was an Sozialprodukt zuwachsen könnte, nicht hochkommen lassen.

Die Alliierten haben mit der Verordnung,die man den heimatlosen Ausländern stets aufs Neue wiederholte, nämlich, der deutsche Staat habe voll und ganz für sie zu sorgen, das Beste gewollt. Aber man hat damit nicht das Beste erreicht, sondern das Gefühl für die eigene Verantwortlichkeit bedenklich untergraben und den Willen zur Meisterung seines persönlichen Schicksals gelähmt.

Für uns Deutsche ist es zu einer anerkannten Verpflichtung geworden, die heimatlosen Ausländer unter unsere fürsorgerische Obhut zu nehmen. Von der Regierung des Landes Oldenburg ist der Bau von soliden Siedlungshäusern vorgesehen. Dieser Beitrag zur Wiedereingliederung und Gesundung der Letten ist so grundlegend und wichtig, daß er garnicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Er stellt die wichtigste Voraussetzung, den tragenden Grund jeder fürsorgerischen Arbeit an den heimatlosen Ausländern, die zu einer Dauerlösung führen soll, dar.

Es ist aber zu wünschen, daß man das Besondere der vor uns liegenden Aufgabe nicht übersieht, daß man mit den Aufwand gleich großer finanzieller Mittel auch das Bestmögliche erreichen kann.  Dazu gehört m.E., daß man in gemeinsamen Gespräch zwischen heimatlosen Letten, ihren Baufachleuten und unseren deutschen Architekten individuelle Lösungen zu finden sucht. Dazu gehört für die wirtschaftliche Einordnung und die soziale Wiedergesundung der Lagerinsassen noch eine längere fürsorgerische Betreuung, die noch einige Jahre über die Lösung der Wohnungsfrage hinausgehen muß. Man wird hier ev. Fürsorge und Häuserverwaltung miteinander verbinden können. ;an wird der Beschäftigung, der “Arbeitstherapie ” imweitesten Sinne sein besonderes Augenmerk zuwenden müssen und beim Siedlungsbau dem Kultur- und Gemeinschaftszentrum Werkstätten anschließen müssen.

Schließlich wird man immer wieder die aufsichtsführenden Behörden der Fürsorge und Arbeitsämter bitten müssen, die Verordnungen, die für deutsche Verhältnisse geschaffen und geprägt sind, nicht starr auf die Regelung der Fürsorgemaßnahmen bei den heimatlosen Ausländern anzuwenden. Wir stehen bei Menschen, die aus einen anderen Kulturkreis kommen und die schon 13 Jahre ein Lagerdasein führen, vor grundsätzlich anderen Problemen. Unser Staatswesen ist unelastischer in seinen Gesetzen und Verordnungen als frühere Staatsformen. Möge aber ein historischer Rückblick auf die Eingliederung z.B. der Hugenotten oder der Deutschen in den Wolgasiedlungen uns den Anstoß und die innere Berechtigung zu elastischen, großzügigen und weitgreifenden Sonderregelungen geben. Die Bewahrung wertvoller geistiger Substanz, eine Wiederentfaltung kulturellen Lebens, ohne das die finanziellen Aufwendungen unseres Landes und der internationalen Hilfsorganisationen eine Saat ohne ersprießliche Ernte bleiben wird, werden den Vertriebenen wie uns als  Aufnahmeland die höchsten Zinsen eintragen: Ordnung und körperlich seelische Gesundung aus einer lebendigen geistigen Mitte heraus.

Zuletzt möchte ich noch ein Wort zur Versorgung der geisteskranken Ausländer sagen: Ich weiß aus eigener Erfahrung als Psychiater, wie schwer es die geisteskranken Ausländer in den Anstalten haben und welche Belastung

für die Anstalten sie darstellen. Infolge ihrer geistigen Störung sind sie nicht in der Lage, die Sprache ihrer fremden Umgebung zu erlernen. Damit aber sind sie besonders stark einer quälenden Isolierung preisgegeben. Pflegepersonal und Ärzte beherrschen meist die Sprachen Osteuropas nicht. Deshalb kann oft diagnostisch keine zufriedenstellende Klärung herbeigeführt, arbeitstherapeutisch nicht sicher geführt und psychotherapeutisch schon gar kein Ansatz gefunden werden.

Ich muß als Arzt – und darin wird mir jeder erfahrene Psychiater zustimmen – jede Bestrebung als unmenschlich bezeichnen, die – ganz gleich, aus welchen verwaltungs- oder finanztechnischen Gesichtspunkten – die Errichtung besonderer psychiatrischer Abteilungen für die heimatlosen Ausländer in Deutschland ablehnt oder nicht fördert. Eine solche Abteilung könnte einer größeren Anstalt angeschlossen und mit einemTeil ausländischer Pflegekräfte oder arbeitstherapeutisch geschulten Betreuern sowie mit einen sprachkundigen Arzt besetzt werden.

Die Zusammenführung der noch in den verschiedenen Anstalten verstreut untergebrachten Ausländer sowie der geisteskranken und geistesschwachen Ausländer, die bei Auflösung der Lager anstaltspflegebedürftig werden, ist eine menschliche Verpflichtung.

Den entsprechenden Abteilungen könnte u.U. eine Abteilung für Alkoholentziehungskuren angeschlossen werden.

Soweit ich es imLager Ohmstede überblicken konnte, wird die Zahl der wirklich Asozialen bei einer ausreichenden menschlichen und kulturellen Bedürfnissen gerecht werdenden Lösung nurgering sein, jedenfalls viel geringer, als man es von mancher deutschen Seite befürchtet oder aufgrund des hohen Anteils an Versorgungsbedürftigen zu folgern geneigt ist. Fürdiese Behauptung kann der Beweiserbracht werden. Man muß nur den Erfolg der seit einigen Jahren im Ausländerlager Augustdorf bei Bielefeld durchgeführten Rehabilitationsmaßnahnen betrachten.

Unterschrift

gez. Dr.  Kiessling

(Dr. Kiessling)

Facharzt f. Neurologie u.Psychiatrie